Donnerstag, 7. Juni 2012

Facebook IPO: Sprungbrett oder Stolperstein?

von Stefan Schär

Vor und seit dem IPO wurde vieles geschrieben über Facebook, über die Unternehmensbewertung und enttäuschte Erwartungen. Diese Überlegungen greifen zu kurz, weil sie sich lediglich auf den Aktienkurs fokussieren anstatt auf das Geschäftsmodell. Das ist nicht aussergewöhnlich, schliesslich ist das Ziel jeder Investition die Rentabilität. Genau diese Sachlage könnte für Facebook zum Stolperstein werden. Warum also überhaupt das IPO-Risiko?

Der Erfolg von Facebook war nie geplant – ein Schicksal der meisten erfolgreichen Erfindungen und Entwicklungen. Der Erfolg von Facebook hat sich im Grunde genommen ergeben. Zumindest zu Beginn. Der Facebook-Boom wurde getrieben vom Bedürfnis Jugendlicher, mit möglichst vielen Personen in Kontakt zu treten und sich auszutauschen. Der Umgang mit dem neuen Medium, den Persönlichkeitsrechten, Bildern und Informationen war zu Beginn ungezwungener als heute; im Nachhinein betrachtet, muss man den damaligen Umgang geradezu als naiv bezeichnen. In der Zwischenzeit ist nicht nur Facebook älter geworden, sondern auch seine Nutzer. Die Zeiten, in der man für alle zugänglich die wildesten Partybilder hochlud und mit entsprechenden Texten anreicherte, sind vorbei. Mit der Erschliessung der ü25-Generationen ging die Underground-Ära, seine wilde Ursprungszeit also, verloren und tauchte gleichzeitig in eine neue Entwicklungsphase ein, dem Beginn der Kommerzialisierung.

DER Hotspot schlechthin
Befeuert von der neuen Möglichkeit, einfach und rasch mit der ganzen Welt in Kontakt zu treten, begann Facebook seinen Siegeszug. Zusätzlich angeheizt durch eine fortlaufende Berichterstattung in den traditionellen Medien, gelang es Facebook, sich als zentraler Treffpunkt im Internet zu etablieren: Wer mit seinen Freunden und potenziell interessanten Menschen in Kontakt treten wollte, musste sich auf Facebook einloggen.

Die Zahlen belegen diese Entwicklung eindrücklich. National wie international. Im November 2007 verzeichnete Facebook in der Schweiz gerade einmal 165'000 Mitglieder, ein Jahr später bereits waren es 1 Million, Ende Mai 2012 sind es mittlerweile knapp 3 Millionen, was knapp 40 Prozent der in der Schweiz lebhaften Bevölkerung entspricht.

Aus heutiger Sicht, kann sich Facebook hinsichtlich seines zukünftigen Erfolges nur selber schlagen. Zumindest in der westlich orientierten Hemisphäre. Eine andere Ausgangslage zeigt sich in China und Russland. Als zentrale Erfolgsfaktoren eines sozialen Netzwerkes, um die notwendige Mitgliederzahl zu erreichen, hat sich ein grosses Einzugsgebiet einer einheitlichen Sprache, Kultur und Geschichte erwiesen. Voraussetzungen, welche die anderen zwei kulturellen Weltmächte China und Russland erfüllen. Verstärkt wird dieser Umstand – zumindest in China – durch eine protektionistische Haltung, der Einschränkung der Verfügbarkeit von Facebook im eigenen Hoheitsgebiet.

Wer geht schon mit seinen Eltern und Grosseltern in den Ausgang?
Der grosse Erfolg von Facebook bei den unter 20-jährigen und der unablässigen Berichterstattung über das neue Medium führte dazu, dass mehr und mehr ältere Personen sich ebenfalls für das Medium zu interessieren begannen. Manche, um auch dazu zu gehören, einige um zu sehen, was die eigenen Kinder auf diesem Medium treiben, andere weil sie die Vorteile entdeckten, auf einfache Art und Weise mit ihren Kindern und Grosskindern, unabhängig der Distanz und Tageszeit, auch nach dem Auszug von zu Hause in Kontakt zu bleiben. Viele davon entdeckten dabei die Vorteile, sich auch mit Personen der eigenen Generation austauschen zu können.

Heute macht die Gruppe der unter 20-jährigen Facebook-Nutzer in der Schweiz noch rund 19% aus, die Hauptgruppe ist jene der 20- bis 29-jährigen mit einem Anteil von 32%, während es die über 60-jährigen auf 5% bringen. Interessant ist, dass bei der Altergruppe der unter 20-jährigen nurmehr ein sehr begrenztes Wachstum möglich ist, d.h. nahezu jeder in dieser Altersgruppe, der an einem sozialen Netzwerk interessiert ist und Zugang zum Internet hat, ist bereits bei Facebook. Anders sieht es bei den Altersgruppen der über 40-jährigen aus. In diesem Segment ist das Wachstumspotenzial und die Wachstumsdynamik am grössten. Das Segment der über 60-jährigen Personen etwa verzeichnete zwischen Januar und April dieses Jahres einen Zuwachs von 21%. Facebook hat sich definitiv vom Jugend- zum Allgemeinmedium entwickelt.

Genau in dieser Entwicklung steckt ebenso ein zentrales Risiko, als auch eine zentrale Chance für Facebook. Als zentrale Chance ist das dynamische Wachstum der vermögens- und einkommensstärksten Alterssegmente anzusehen und der damit einhergehenden Akzeptanz des Mediums in der Gesamtbevölkerung. Insbesondere der bislang in der Schweiz praktisch inaktive Finanzsektor wird sich dieser Entwicklung auf Dauer nicht entziehen können.

Als zentrales Risiko auf der anderen Seite ist der verloren gegangene Zufluchtsort der jungen Generation. Die Kaufkraft dieser Generation vermag zwar mit jener der neu eintretenden Generationen nicht mitzuhalten. Der jungen Generation kommt jedoch als Wegbeschreiter und primären Dynamisierungskraft zukünftiger Entwicklungen auch weiterhin eine zentrale Rolle zu. Mehr und mehr ist in diesem Alterssegment allerdings die Frage zu hören: „Wer geht schon mit seinen Eltern in den Ausgang?“. Auch wenn diese Frage vorerst nur scherzhaft gemeint ist, so lässt sie doch aufhorchen. Wie lange ist diese Altersgruppe bereit, sich durch ihre Eltern in die Karten ihres Freundeskreises zu schauen? Facebook hat vor einiger Zeit die Problematik erkannt, dass nicht alles, was nicht für alle bestimmt ist, von allen auch mitbekommen werden sollte, und hat das von Diaspora und Google+ initiierte Konzept der differenten Lebensgruppen adaptiert. Ob dies auf die Dauer reicht, wird sich weisen.

Der Kampf um die Werbemilliarden
Google ist seit einigen Jahren im Internet das Mass aller Dinge. Kein anderes Unternehmen vermochte das Web 1.0 derart für sich einzunehmen wie Google. Und kein anderes Unternehmen vermochte aus dem Internet derart Kapital zu schöpfen: Rund 25 Milliarden Dollar pro Jahr. Als Hauptquelle von Google’s Geschäftsmodell dient dabei die immense Datenmenge, welche das Unternehmen mit seiner Suchmaschine und anderen Applikationen generiert. Die Kunst, Werbung dann aufzuschalten, wenn das Bedürfnis des jeweiligen Nutzers latent ist, erwies sich als Eldorado.

So gut jedoch Google die Web 1.0-Technologie für seine Bedürfnisse einzusetzen vermag, so sind die Web 1.0-Daten denjenigen des Web 2.0 und damit der Facebook-Welt unterlegen. Wohin die Reise geht, sind sich Google und Facebook einig: Jenes Unternehmen, welches die umfangreicheren und qualitativ hochwertigeren Nutzerdaten besitzt, wird zukünftig den Löwenanteil der Werbeetats für sich gewinnen. Google erkannte die Veränderungsdynamik früh und lancierte ein soziales Netzwerk nach dem anderen. Ein spektakulärer Fehlschlag reihte sich an den anderen. Mit Google+ versuchte der Konzern auf ein neues, den Rückstand gegenüber Facebook zumindest teilweise wett zu machen. Bis anhin, mit sehr bescheidenem Erfolg.

Für Facebook wiederum ist der Anteil der Webnutzung das zentrale Erfolgskriterium im Kampf mit Google. Gelingt es Facebook, sämtliche relevanten Nutzungen des Webs auf sich zu vereinen, so ist ein Ausbrechen aus der Facebook-Welt für die Anwender nicht mehr nötig.

Die alles entscheidende Frage
Mit dem Beginn der Kommerzialisierung und der Lancierung von Unternehmens-Likepages trat Facebook bereits vor wenigen Jahren in eine neue Entwicklungsphase ein. Mit dem Gang an die Börse wurde jedoch eine noch nie dagewesene Veränderungsphase betreten, deren Entwicklung noch niemand abschätzen kann. Bislang wurde Facebook mit dem Gründer Mark Zuckerberg gleichgesetzt: Einem schrulligen Nerd, der es geschafft hat und dem genau aus diesem Grund manches verziehen wurde, was Grosskonzernen das Genick gebrochen hätte. Mit dem IPO riskiert Facebook jedoch, diesen Nimbus zu verlieren. Je lauter die Schreie enttäuschter Anleger und Investoren nach höheren Aktienkursen werden, umso stärker wird Facebook als Spielball gieriger Finanzhaie wahr genommen und nicht mehr als Husarenstück eines jungen Entwicklers, der gefühlsmässig der Nachbarsjunge sein könnte. Das verändert die Sicht der Dinge und damit die Einschätzung dessen, was Facebook tut, macht und sagt massgeblich. Occupy-Wall-Street lässt grüssen.

Neben der sich verändernden Reputation bringt der IPO einen zweiten, fundamentalen Wechsel hervor: Den zusätzlichen Druck auf die Erschliessung neuer Ertragsquellen. Das Geschäftsmodell von Facebook umfasst drei Kerngruppen: Privatpersonen, Unternehmen und Facebook selber. Die Rollen waren klar verteilt: Privatpersonen waren Teil des Produktes, Unternehmen kamen in den Genuss interessanter, kostenloser Dienstleistungen wie z.B. den Likepages und der Publikation ihrer Posts im Newsfeed der Personen, die den Unternehmensauftritt geliked hatten. Die Haupteinnahmequelle von Facebook war bis anhin die Schaltung von Werbebanner, welche durch Unternehmen geschalten wurden. Zweck der Werbebanner war die Bewerbung der unternehmenseigenen Facebook-Likepages oder Internetauftritte ausserhalb von Facebook.

Seit anfangs Juni 2012 besteht für Unternehmen neu die Möglichkeit, ausgewählte Posts zusätzlich zu bewerben. Beworbene Posts werden in der Community im Newsfeed höher gewichtet und damit prominent platziert. Mit dieser Werbemöglichkeit wird die sogenannte EdgeRank-Variable ausser Kraft gesetzt. Facebook führte vor einiger Zeit einen Algorithmus – den sogenannten EdgeRank – ein, um Content hinsichtlich seiner Relevanz zu trennen. Durch diese Funktion wurde für den jeweiligen Nutzer nurmehr jener Content seiner gelikten Unternehmensseiten im Newsfeed prominent angezeigt, welcher aufgrund seiner Affinität zu den Themen dieser Seiten als relevant eingestuft wurde.

Mit der neuen Bewerbungsmöglichkeit ist es Unternehmen nun möglich, Content mit geringer Relevanz für den Nutzer prominent im Newsfeed anzuzeigen. Nutzer müssen damit rechnen, zukünftig auf eine zunehmende Anzahl Werbebotschaften in ihrem Newsfeed zu stossen. Aber auch aus der Sicht der Unternehmen stellt die neue Werbeform nicht ungeteilt einen Mehrwert dar, sondern wird von vielen als eine zusätzliche Abschöpfung empfunden. Entsprechend fielen die Kommentare auf die Einführung der neuen Werbemöglichkeit aus. Die Sprecherin von PoliticalPlot.com meinte stellvertretend für viele Unternehmen: "Unsere Facebookseite zählt über 13'600 Likes. Für die meisten davon haben wir via Facebook-Bannerwerbung bezahlt. Seit der Einführung der Möglichkeit, Posts zu bewerben, mussten wir einen klaren Rückgang der Reaktionen auf unsere – nicht beworbenen – Posts feststellen. Von ursprünglich 100 bis 350 Rückmeldungen je Post vor der Einführung, sind es nunmehr lediglich 4 bis 40 Rückmeldungen. Es ist zu vermuten, dass Facebook den Zugang zu unserer Community via des Newsfeeds beschnitten hat, um die neue Post-Bewerbungsmöglichkeit zu forcieren."

Die Erfahrung zeigt, dass Facebook durchaus auf die Reaktion der Nutzer und Unternehmen hört und je nach Erfolg einer neu lancierten Leistung Anpassungen vornimmt. Dieses Beispiel zeigt jedoch klar, wie ernst es Facebook mit der Erschliessung neuer Einnahmequellen ist.  Eine Strategie, welche aus unternehmerischer Sicht durchaus vertretbar ist. Entscheidend wird sein, ob es Facebook gelingt, die Schmerzgrenze der Kommerzialisierung der Kerngruppen Privatpersonen und Unternehmen nicht zu überschreiten. Wo diese liegt, ist kaum vorherzusagen; sie liegt im individuellen Empfinden jedes einzelnen Nutzers bzw. Unternehmens. Wie bei allen Massenphänomenen ist jedoch nicht die individuelle sondern die kollektive Schwelle entscheidend. Ein Überschreiten dieser Grenze führt zu einer Verhaltensänderung der Gesamtheit der Nutzer, was eine Abwanderung im grossen Stil mit sich ziehen könnte. Ist eine derartige Abwanderung Realität, so kann sie kaum mehr aufgehalten werden, wie die Beispiele von mySpace und Co. eindrücklich zeigen.

Zeitpunkt für neue Netzwerke
Ob mit dem IPO der Zeitpunkt für neue Netzwerke eingeläutet wurde, ist noch nicht zu beantworten. Facebook wird sich der Risiken, die mit dem IPO einhergehen, bewusst sein. Entscheidend wird somit sein, wie es Facebook gelingt, mit den Risiken umzugehen und wie konsequent die Umsetzung der Kernstrategie - insbesondere der Ausbau im Mobilebereich - vorangetrieben werden kann. Trotzdem, es scheint, als ob die Chancen für neue Netzwerke noch nie so gut standen, erfolgreich zu werden, wie jetzt.








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